23.09.2021
Eine Nacht in Khunchom: Überfall, Zauberei und neue Rätsel
4. Boron 1038 BF, weit nach Mitternacht
Das Magiedingens
Ich hatte gerade so wunderschön geträumt. Von einem großen Feuer in der Nacht. Von Hellgelb bis
ins Dunkelblau leuchtete es, und die Flammen zuckten und züngelten unruhig umher, so als würde
ein Betrunkener hektisch Pantomime spielen. Betrunken und Pantomime … So ungefähr sah das kurz
darauf auch beim guten Erol aus. Aber dazu später mehr.
Mitten im schönsten Schlaf weckte mich Inwar. Ziemlich unsanft. Gut, nicht so unsanft wie kurz
darauf diesen merkwürdigen Erol, dem der Zausel herzhaft ins Gemächt trat. Dieser Erol geht immer
so, als wäre er auf einem schwankenden Schiff. Ich hab in meinem Viertel am Hafen viele Seeleute
gesehen, die so gingen. Respekt, dass er nicht laut aufgeschrien hat, als der Waldschrat ihm seinen
Fuß in die Weichteile rammte.
Inwar … Ich mag den Zausel. Seine Füße sehen zwar aus, als würde er sie jeden Tag in einer
Matschepfütze baden. Und seine Zehnägel würden in manchen Städten Aventuriens unter das
Waffengesetz fallen. Aber er kennt sich mit diesem Magiedingens aus. Vielleicht kann er mir bei
meinem Magiedingens helfen … Nun, wie sich bald herausstellte, war der Kauz aus dem Wald mit
dem Mehlsack als Kleidung nicht der Einzige in unserer Runde, der was mit diesem Magiedingens was
zu tun hatte.
Als wir leise Espadins Zelt gegürtet und gerüstet verließen, wartete ein junges, einheimisches
Mädchen auf uns. Suliban war ihr Name. Valpo, das Weinwiesel hatte sie geschickt: Er hatte bei
seinem Auftrag wohl Erfolg und die Lagerhäuser gefunden. Nun sollten wir schnell zu ihm kommen;
es klang so, als sei Eile geboten. Erol schwankte plötzlich noch mehr als sonst, entblößte sich mit
einem Mal unten herum – und versuchte, auf einen der anwesenden Soldaten zu pinkeln, die am
Eingang des Lagers Wache hielten! Um diese abzulenken, damit wir das Lager verlassen konnten!
Ich habe noch nie einen so selten dämlichen Plan gehört. Vor allem hatten die Soldaten ja gar nicht
vor, uns nicht aus dem Lager zu lassen! Er hatte verdammtes Glück, dass die Soldaten ihn nicht direkt
wieder eingebuchtet haben. Wenn er das in Drôl bei einem von den harten Jungs der Ferox Ferroque
gemacht hätte, hätte der ihm mit Sicherheit sein Ding abgerissen.
Kurz bevor wir das Lager verließen, sprach diese Zibillia unseren Mhukkadin an. Ich bekam nicht mit,
worüber die beiden redeten. Aber dem Ausdruck in Mhukkas Gesicht nach zu urteilen, winkte ihm
wohl ein Schäferstündchen. Rahja gönnt es, wie wir in der Rosenstadt zu sagen pflegen.
Erol muss ich im Auge behalten. Der gefährdet nicht nur sich selbst, sondern auch andere. Selbst
Meister Erpelgrieb ist nicht so verwirrt, wenn er seine Kräuter nicht genommen hat. Meister
Erpelgrieb … Ich vermisse ihn und seine Ratschläge, seine Hilfe bei diesem Magiedingens. Aber auch
der alte Gefährte meines Vaters konnte das Magiedingens in mir nicht in „geordnete gildenmagische
Strukturen“ lenken, wie er immer zu sagen pflegte.
Und dieser Archimedes … Er war auffällig still bis zu diesem Zeitpunkt. Aber auch er offenbarte noch
so einiges, aber alles der Reihe nach.
Rasch folgten wir dem Mädchen also durch die verlassenen Straßen von Khunchom. Ich spürte einen
gewissen Stolz in mir, weil ich Großvaters Schwert bei mir trug. Ein Zwerg aus der Gruppe, mit der
mein Großvater väterlicherseits durch die Lande zog, um Questen zu erfüllen und Abenteuer zu bestehen,
hatte dieses Schwert angefertigt. Derselbe Zwerg hatte auch die Gruppe um meinen Vater
zu späteren Zeiten begleitet. Leider hatte ich ihn nie persönlich kennengelernt, im Gegensatz zu
anderen Mitgliedern von Vaters Freunden, die sich ebenfalls wie er in Drôl niedergelassen hatten.
Mir fiel in diesem Moment wieder auf, wie anders Khunchom war. Zum einen war die Stadt viel
größer als meine Heimat Drôl, und zudem wirkte sie vielfältiger, ein wahrer Schmelztiegel vieler
verschiedener Kulturen. Ich mag diese Stadt. Eine Stadt, die das größte Gauklerfest der Welt
ausrichtet, kann man nur mögen.
Das Mädchen führte uns mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die dunklen Straßen und Gassen
der „Ewig Schönen“, wie die Khunchomer ihre Stadt verklärt nennen. Vor dem Zeltlager hatten uns
Soldaten der Diamantenen Garde gewarnt, dass die Gassen Khunchoms in der Nacht nicht sicher
seien. Das war sicher nett gemeint, aber das war mir schon vorher klar. In größeren Städten zieht das
Licht des Madamals üble Gestalten an, das ist in Drôl nicht anders.
Nachdem uns ein Nachtwächter kritisch beäugte, bevor er sich wieder seiner Patrouille widmete,
kam unsere bunte Schar an einen kleinen Platz mit einem Brunnen in dessen Mitte. Langsam spürte
man schon den Morgen und die kommende Hitze, die den Tag wieder begleiten würde. Urplötzlich
wurde die Stille von einem Surren – und einem Schmerzensschrei Erols durchbrochen! Als ich
aufgeschreckt in seine Richtung blickte, sah ich einen Pfeil aus seiner Schulter ragen.
Von da an ging alles schnell. Ich erblickte den Schützen auf einem Dach, der Erol getroffen hatte.
Jemand schrie „In Deckung! Hinterhalt!“, und ich sah, wie meine Gefährten auseinanderstoben und
teils in Deckung gingen, teils zum Angriff übergingen. Als ich meine Hand auf den Schwertgriff legte,
war sie schweißnass vor Aufregung. Das erste Mal würde ich nun dasselbe Schwert in den Kampf
führen, dass schon meinen Großvater und meinen Vater stets sicher begleitet hatte, bei Rondra! Ich
ging gedanklich blitzschnell alle Übungen durch, die mein Vater und seine Gefährten mich gelehrt
hatten. Aber wie hatten sie auch immer gesagt: Meistens kommt alles ganz anders.
Weitere Bewaffnete tauchten auf. Tsayano zögerte keinen Augenblick und stürzte sich mit gezogener
Waffe auf einen der Angreifer. Bei den Göttern, der Kerl hat Mumm. Und er hat was drauf, das hat er
schon am Tag zuvor gezeigt. Aber die anderen? Na ja, geht so.
Nun kam der Moment, in dem Archimedes mich stutzig werden ließ. Als ich aus den Augenwinkeln
sah (ich hatte mich am Brunnen verschanzt und entschied mich, meine Schleuder bereit zu machen),
wie er mit seltsamen Gesten auf das Dach deutete, auf dem sich der Bogenschütze befand, und dort
ein rauchendes Feuer entstand, war die berühmte Neugier der Pippifaxens in mir vollends geweckt.
Dieser Kerl? Dieser Archimedes hat auch was mit dem Magiedingens zu tun? Allerhand. Doch er
sollte nicht die einzige Überraschung in dieser Nacht für unsere illustre Truppe bleiben, was dieses
Magiedingens anbelangt.
Plötzlich durchzuckte mich am ganzen Körper ein irrer Schmerz! Im ersten Moment schoss die stets
in mir wohnende Furcht hoch, dass dieses Magiedingens in mir die Oberhand gewinnt. Aber das war
etwas anderes … irgendjemand fügte mir Schmerz zu.
Ich riss mich zusammen. Meine Schleuder hatte ich schnell bereit und geladen. Mit verbundenen
Augen könnte ich das tun, so oft habe ich es gemacht. Quer gegenüber von mir war ein weiterer
Schütze aufgetaucht. Mit dem Feuer in mir entzündete ich die Schleuderkugel mit dem Hylaier Feuer
und feuerte den Granatapfel auf den Fuhrwagen, auf dem sich der Bogenschütze positioniert hatte.
Was im Folgenden geschah, war so, wie es mir Vater immer beschrieben hatte. „Ein Kampf in einer
Stadt ist unberechenbar, mein Sohn“, hatte er mich gelehrt. „Du kannst nicht planen, wie Dein
Gegner seine Umgebung einsetzt. Aber er kann es bei Dir auch nicht planen. Sobald sich die Gelegenheit
bietet, Deinen Gegner zu stellen und eine Entscheidung zu suchen, dann nutze sie. Dann
ist die Leuin auf Deiner Seite.“
Ich sah, wie Invar gestikulierend und etwas rufend auf den Gegner von Tsayano zuging. Der
Attentäter schien tatsächlich Angst vor dem Zausel zu bekommen! Gut, wenn man ihn das erste Mal
so sieht, und das auch noch im Dunkeln, kann das schon passieren. Und der Kerl erschrak sich kurz
darauf noch mehr, und ich ebenfalls ein wenig. Denn dass Mhukkadin aus dem Stand mit einem
Riesensatz in die Höhe sprang und neben dem Attentäter landete, damit hatte ich wahrlich nicht
gerechnet. Wie eine Kröte sah er aus, als er absprang und landete.
Erol feuerte eine Art Armbrust ab. So ein Ding hab ich noch nicht gesehen. Es verschießt Kugeln,
keine Pfeile. Oder heißen die Dinger bei ner Armbrust Bolzen? Phex wird’s egal sein. Und Tsayano?
Ich bewundere diese Almadaner. Die kämpfen echt mit Köpfchen.
Unser Freund mit dem lustigen Akzent packte seinen Kontrahenten am Mantel und versuchte, ihn
gegen einen weiteren Attentäter zu schleudern. Das misslang – aber nicht wegen der Fähigkeiten von
Meister Taubentanz, sondern aufgrund der schlechten Qualität des Mantels, der bei dieser Aktion
zerriss.
Der Wagen, den ich mit dem Hylaier Feuer entzündet hatte, brannte schnell lichterloh. Herrlich! Der
Kampf wogte hin und her. Archimedes wurde von einem der Schützen ins Bein getroffen und
verschanzte sich. Mhukka, die Kröte, sprang weiterhin in unglaublich hohen und weiten Sprüngen
umher und versuchte, Tritte auszuteilen. Ich zog das Familienschwert und atmete tief durch. Nun
würde nach all dem Üben das erste Mal ein Kampf auf Leben und Tod auf mich zukommen!
Als ich mich mit gezogener Waffe auf einen der Angreifer konzentrierte, sah ich aus den
Augenwinkeln, wie ein Mann mit einer Robe ins Licht trat. Ein Magier wie Meister Erpelgrieb! Er
gestikulierte, rief einen Spruch (irgendwas von Auge und verflucht) – und mit einem Mal sah ich drei
identische Magier dort stehen!
„Nicht ablenken lassen, egal was geschieht“ hatte Vater immer gesagt. Ich widmete mich also
meinem Gegner. Und es folgten die ersten echten Treffer und Paraden meines Lebens. Und auch die
erste Verwundung.
Denn als der Schütze, dem ich ein Schnippchen mit dem Hylaier Feuer schlagen konnte, zum Rückzug
rief, traf mich der andere Schütze. Zum Glück war die Wunde eher oberflächlich. Aber ich denke,
diese erste Wunde aus einem Kampf heraus werde ich nie mehr vergessen. Allein schon, weil der
Zausel mich später jämmerlich schlecht verbunden hat. Aber er hat es ja nur gut gemeint.
Gemeinsam mit dem hüpfenden Mhukkadin konnte ich dann einen der Angreifer überwältigen.
Mhukka ließ Krallen aus seinen Händen wachsen und bedrohte damit den Schurken. Nach dem
Froschsprung also die nächste Überraschung.
„Bei Rur und Gror, ich kann nix tun!“, schrie der Kerl. Natürlich war uns bekannt, dass sich in
Khunchom ein Viertel befand, in dem sich Exilmaraskaner niedergelassen haben – wenn man einige
Zeit in der Stadt verweilt, kommt man an dieser Information gar nicht vorbei. Handelte es sich bei
unseren Angreifern also um Exilmaraskaner? Als wir versuchten, ihn zu fixieren, schrie er: „Lebendig
kriegt ihr mich nie!“ und drehte an einem Ring herum, den er trug. Ich riss ihm den Ring, der ein
Eidechsensymbol zeigte, so schnell ich konnte vom Finger. Aber es war zu spät: Er hatte sich damit
ein Gift verabreicht, das ihn tötete. Diese Kerle greifen uns an und sind bereit, lieber zu sterben als
uns lebend in die Hand zu fallen? Entweder sind das kranke Spinner aus irgendeiner Sekte oder die
Sache ist größer, als wir es ahnen. Hat das echt alles was mit der Hinrichtung von Abdul und Radik zu
tun? Keinen blassen Schimmer. Während sich ein Teil der hinterhältigen Schurken auf die Flucht begab,
hatte Invar irgendwas mit einem der Kerle angestellt. Der Mann lief weg – und fing mit einem Mal wie
wild auf der Stelle zu tanzen an! Der Magier wandte sich daraufhin entschlossen unserem Freund aus
dem tiefen Walde zu. Er gestikulierte. Ich kannte diese Geste von Meister Erpelgrieb. Als ich „Feuer“
rufen und Invar warnen wollte, war es schon zu spät. Der Flammenstrahl des Magiers schoss aus
seinen Händen – und verebbte, bevor er unseren Waldbewohner erreichen konnte. Ich spürte eine
freudige Erregung in mir aufsteigen. Feuer … Du studierter Stümper, das kann ich besser!
Tsayano sprang unterdessen leichtfüßig auf eine Mauer. Ich liebe diesen Knaben, der hat einfach
Eleganz! Würde auch einen guten Gaukler abgeben. Er begann, auf den tanzenden Kerl einzustechen.
Gute Idee! Da sehe ich, dass Invar einen Dolch gezogen hatte und einem der Fieslinge eins verpasste.
Von irgendwoher hörte ich auch wieder das zischende Geräusch von Erols merkwürdiger Armbrust.
Heute ist echt eine seltsame Nacht. Plötzlich haben Leute um mich herum auch mit diesem
Magiedingens zu tun, bei denen ich das gar nicht gedacht hätte. Und der einzige Kerl, bei dem ich es
wusste, kann auch noch mit ner Waffe kämpfen.
Doch es fehlte noch einer in der Reihe derjenigen Gefährten, der den anderen sein Magiedingens
offenbarte. Nämlich ich, Peppo Pippifax aus dem Drôler Hafenviertel Trudinan.
Wie immer spürte ich eine Mischung aus Furcht, Vorfreude und Aufregung, als ich mich auf das Feuer
in mir konzentrierte. Die kleineren Tricks hab ich ganz gut im Griff, aber die paar wenigen größeren
Dinge, die mir Meister Erpelgrieb beibringen konnte, bei denen ist immer eine gewisse Gefahr im
Spiel. Eine Gefahr, die ich gleichzeitig fürchte und liebe. Verrückt fühlt sich das an. Und ziemlich gut.
Ich konzentrierte mich wie gelernt, atmete tief ein und spürte, wie das Feuer in mir aufstieg, sich auf
meinen Wunsch hin bildete. Wie bei einem lautlosen Schrei riss ich den Mund weit auf, und ein
Flammenstrahl schoss auf die drei Magier zu. Phex war bei mir, ich hatte scheinbar den richtigen
Gegner getroffen. Alle drei wandten sich brennend und schreiend zur Flucht. Ein bemerkenswerter
Anblick. Brennend und schreiend. Schön.
Unterdessen war Mhukkadin mit seinen Sprüngen bei Tsayano angelangt und wollte ihn im Kampf
unterstützen. Ein Pfeil zischte an ihm vorbei und traf den Attentäter tödlich. Auch dieser trug einen
identischen Ring wie der Gegner, den wir zuvor überwältigt hatten. Unter dem Ring waren zwei
tätowierte Punkte zu sehen. Wer zu den Niederhöllen tätowiert sich denn sowas?
Wir hatten gesiegt! Die Gegner waren tot oder geflohen. Der Wagen, den ich entzündete, brannte
mittlerweile wie ein Scheiterhaufen. Wir entschlossen, uns vom Ort des Geschehens zu entfernen
und einen ruhigeren Ort aufzusuchen, an dem wir uns kurz ausruhen und überlegen konnten, was als
Nächstes zu tun sei.
Wer waren diese Angreifer? Woher wussten sie, dass wir dort vorbeikommen würden? Hatte etwa
Valpo, das Weinwiesel ein doppeltes Spiel betrieben? Seine kleine Botin auf jeden Fall hatte direkt zu
Beginn des Überfalls das Weite gesucht. Nun, das müssten wir das Weinwiesel eben fragen. Und
wenn es sein muss, dann kämpfen wir halt wieder. Ich habe Gefallen dran gefunden. Wenn nur die
anderen alle so gut kämpfen könnten wie Tsayano … Immerhin kann der Zausel ordentlich mit dem
Magiedingens umgehen. Und einer von uns kann hüpfen wie eine Kröte. Das ist doch auch schon mal
was.
(c) 2021 von Christian B.
Dirk Otto - 22:21:33 @ DSA